Am 20. April waren Birgit Rabisch und Jürgen Volk vom Literaturzentrum im Literaturhaus Hamburg zu Lesung und Verlagspräsentation geladen.
Hier die Einführungsrede des Verlegers zu „Wir kennen uns nicht“ und Autorin Birgit Rabisch. (Autor: Jürgen Volk)
Vielen Dank für die warmen Worte des Empfangs und der Begrüßung, Frau Ott. Auch von mir eine herzliches Willkommen zu unserer heutigen Lesung der Hamburger Autorin Birgit Rabisch aus ihrem neuen Roman Wir kennen uns nicht. Es freut auch mich, dass so eine ausgelassene Stimmung herrscht. Wir haben gerade schon gescherzt, ob wir nicht Fotos machen sollten: Vor der Lesung – nach der Lesung …
Im Anschluss an die Lesung – egal wie wir dreinblicken, werden wir, wie Frau Ott bereits angekündigt hat, eine kleine Verlagspräsentation haben. Jetzt aber übergangslos in medias res, würde ich sagen, denn ich habe von Frau Ott exakt fünf Minuten für die Werkeinführung bekommen, möchte aber dennoch ein wenig weiter ausholen …
Birgit Rabisch und mich verbindet eine Geschichte, die schon ein wenig länger währt als die Gründung des Verlags duotincta. Wir waren beide Autoren beim Plöttner Verlag in Leipzig und veröffentlichten dort 2013 unsere Romane, lasen in der Folgezeit zusammen und hielten auch so Kontakt. 2015 kam dann leider das Aus für den Plöttner Verlag. Damit waren wir als Autoren nicht nur ohne Zuhause, Leipzig verlor auch seinen zweitgrößten Belletristik-Verlag. Zwischenzeitlich fand ich mich aber aus den verschiedensten Ursachen, die mir heute selbst schleierhaft sind, bereits mitten in einer Verlagsgründung wieder. Da war es vergangenes Jahr keine Frage, ob wir den Roman „Die vier Liebeszeiten“ als Wiederauflage herausbringen würden, nachdem Jonas Plöttner die Rechte an die Autorin zurückgegeben hatte. Zu diesem Roman möchte ich jetzt nicht viel sagen, denn die meisten von Ihnen werden ihn als Rabisch-Leserinnen und Leser wohl bereits gut kennen.
Dennoch möchte ich anmerken, dass für mich ein Werkzusammenhang zwischen „Wir kennen uns nicht“ und „Die vier Liebeszeiten“ besteht, insofern als es auch dort um die Frage nach der Generation 68, der Auseinandersetzung der heutigen Generation mit den 68ern und umgekehrt sowie das Zwischenmenschliche geht, hier in der Beziehung zwischen Mutter und Tochter. Das erste aber, das mir durch den Kopf schoss, als ich damals das Manuskript zum ersten Mal gelesen hatte, war ein eher ästhetischer Zugang zum Roman, und über diesen möchte ich kurz sprechen.
„Mit Schweigen ist im Unglück nichts getan.“
Dieses Euripides-Zitat haben wir nicht von ungefähr über den Ankündigungstext und auch die heutige Einladungskarte gesetzt, sondern das Zitat evoziert bewusst die antike Tragödie. Ich habe mich seinerzeit, während meines Philosophiestudiums in Tübingen ein Semester mit der Theorie der Tragödie beschäftigt. Als ich das Manuskript zu „Wir kennen uns nicht“ las, musste ich unvermittelt an eine Tragödie, das Tragische und die ästhetisch-philosophischen Konzepte dahinter denken.
Grob gesagt, gibt es seit Aristoteles einige stets wiederkehrende, aber unterschiedlich interpretierte, feste Bestandteil dessen, was eine ‒ oder die ‒ Tragödie ausmacht: Die Wende der Handlung, die peripeteia, die uns heute eigentlich nur als eine Wende vom Glück ins Unglück in den Sinn kommt, denken wir an die Tragödie. Die Antike kannte auch die Wende vom Unglück ins Glück. Wir denken weiter an die Grundaffekte der Tragödie eleos und phobos ‒ nach Fuhrmann mit Jammer/Rührung und Schrecken/Schauder zu übersetzen ‒, wobei wir keine Diskussion über die Lessingübersetzung von Mitleid und Furcht beginnen wollen, denn Frau Ott nimmt ja die Zeit … weshalb wir auch nicht das diskutieren wollen, wozu sie führen: die Katharsis, die Reinigung, also. Sondern ich will nur kurz als letztes Element den/die tragischen Charakter/Charaktere benennen, denn alle diese Elemente kommen in „Wir kennen uns nicht“ vor, entwickeln einen Sog, der dazu führt, dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen möchte … Ich habe das Manuskript damals in einer Nacht durchgelesen und was sich hier zwischen Mutter und Tochter entwickelt ‒ oder eben nicht ‒ , erzeugt Jammer, Schauder, Rührung, von mir aus auch Mitleid, und das noch in einem rasanten Tempo. Aber ist „Wir kennen uns nicht“ deshalb antik, gehört es gar zum alten Eisen? Nein, denn Birgit Rabisch hat in der Form des Romans dann doch etwas Modernes konzipiert:
Am Ende verlagert sie die Peripatie, die Wende also, in den Leser ‒ und damit, wer will es bestreiten ‒ sind wir wieder bei der Moderne angekommen. Wer wissen will, wie Birgit Rabisch das schafft ‒ ja, der muss zu Verlegers Freude bis zum Ende des Buches lesen … Eine ganz andere Frage, die mich damals und seither wieder beschäftigt, war und ist, und damit möchte ich auch schließen: Ist das Tragische in der Moderne überhaupt noch möglich? Vielleicht wird es wieder möglich, im postfaktischen Zeitalter der alternativen Fakten. Aber dieses Fass wollen wir nun nicht aufmachen, können ja später darüber diskutieren, denn, ja Frau Ott, ich weiß, meine Zeit ist um. Deshalb: Applaus für Birgit Rabisch und „Wir kennen uns nicht“!