Autorin: Miri Watson
Da sitze ich alleine in meinem Wohnzimmer und lese in die Handykamera hinein. Hin und wieder blinken ein paar Herzchen oder winkende Hände auf meinem Bildschirm auf, die mir zeigen, dass ich nicht nur für mich selbst lese, sondern dass „da draußen“ tatsächlich Leute sitzen, die mir zuhören. Statt auf Buchmessen, in Kneipen oder Buchhandlungen lese ich im World Wide Web. Lesung 3.0, sozusagen – und die einzige Art, wie ich in Zeiten der Pandemie überhaupt vor Publikum lesen kann.
Eigentlich hatte ich mir das anders vorgestellt, als im vergangenen Dezember mein Debütroman Meer ohne Mo erschienen ist. Ich habe mich auf Lesungen gefreut, darauf, mich mit Menschen auszutauschen und Neues zu erleben. Das ist nun wegen des Coronavirus passé, so wie eben vieles wegen des Coronavirus passé ist.
Natürlich bin ich traurig darüber, dass die Vorsichtsmaßnahmen, die – das muss man ja leider dazu sagen, absolut sinnvoll und gerechtfertigt sind, um weitere Ansteckungen zu begrenzen – mich in meinem Alltag einschränken. Und natürlich ärgere ich mich, dass diese unbrauchbare Pandemie ausgerechnet auf die Zeit fällt, in der mein Roman frisch erschienen ist. Aber ich denke an all die, die es schlechter trifft, als mich. Denke daran, welches Glück ich habe, alleine in meinem Wohnzimmer sitzend im World Wide Web lesen zu können. Die blinkenden Herzchen, die winkenden Hände – die machen mich froh, sie zeigen mir: Da sind Leute, die sich für das interessieren, was ich geschrieben habe. Die Nachrichten, die mich nach den Online-Lesungen erreichen und in denen Fragen stehen, wie „Wo kann ich deinen Roman kaufen?“ oder „Diese eine Stelle hat mir besonders gut gefallen“, machen mich froh. Sie sind ein bisschen wie die Gespräche, die nach nicht-virtuellen Lesungen an realen Orten stattgefunden hätten.
Ich kann mich nicht beschweren. Ich mag mich auch gar nicht beschweren. Die Pandemie birgt viele Herausforderungen für viele Menschen, auch für mich. Für mich als junge Mutter, die mit der Kinderbetreuung jonglieren muss. Für mich als Studentin, die in der Abschlussphase ihres Studiums eigentlich Austausch mit den Kommiliton:innen bräuchte. Für mich als Journalistin und Medienpädagogin, die wegen fehlender Aufträge auch finanzielle Einbußen hat. Für mich als Mensch, der den Kontakt und die Nähe zu anderen Menschen vermisst. Für mich als Autorin? Ich weiß es noch nicht.
Aber all diesen Herausforderungen zum Trotz: Vor allem bin ich dankbar, dass wir in einer Zeit leben, in der es das Internet gibt, das all die Einschränkungen auf Grund des Coronavirus erträglicher macht. Ich erlebe die Arbeit anderer Autor:innen mit, die ich sonst vielleicht so nie miterlebt hätte. So kann ich zum Beispiel einfach von daheim aus Buchpreisträger Saša Stanišić lesen hören, an virtuellen Workshops der Dichterin Rupi Kaur teilnehmen oder mir ansehen, wie die anderen Duotinctaner:innen ihre Online-Lesungen gestalten. Ich erreiche Menschen mit meinen Lesungen, die ich sonst nie erreicht hätte und schicke nach den Lesungen immer wieder ein paar signierte Bücher in die Welt hinaus.
Ich kann mich nicht beschweren – auch deswegen nicht, weil meine Realität, im Wohnzimmer sitzend, in meine Handykamera hinein lesend, lächerlich angenehm ist, im Vergleich mit der Realität von vielen Menschen, die während dieser Pandemie obdachlos sind, gedrängt in Geflüchteten-Lagern ausharren müssen, in Gefängnissen, Psychiatrien oder Altenheimen keinerlei Ausgang mehr haben und trotzdem einem hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt sind.
Anstatt mich zu beschweren möchte ich deswegen lieber die Möglichkeiten nutzen, die das World Wide Web mir bietet, um an all diejenigen zu erinnern, die nicht gemütlich und sozial distanziert in ihren Wohnzimmern sitzen und Lesungen geben oder anhören können, wie etwa die über 70 Millionen Menschen, die aktuell auf der Flucht sind, oder diejenigen, die im Moment gegen Polizeigewalt und Rassismus auf die Straße gehen.
Nein, über blinkende Herzchen kann ich mich nicht beschweren.