Autorin: Stefanie Schleemilch
Foto: Ike Reiter
Der langersehnte Sommerregen beginnt just in dem Moment vom Himmel zu fallen, als die S-Bahn an der Bornholmer Straße hält. Ich drehe mir eine Zigarette und bin entschlossen, mich dem dampfenden Asphalt hinzugeben. Es war ein Scheißtag, ein richtig beschissener Tag im viel zu heißen Büro. Der Regen hilft, wäscht so viel Schweiß und Dreck von mir, dass mir die Augen brennen. Dann löscht der Himmel meine Zigarette aus und ich gebe mich angesichts der aussichtslosen Lage den Tränen hin, die im tosenden Bindfadengeflecht der Wassertropfen glücklicherweise unbemerkt bleiben.
Es zieht im Kiefer, ich habe mir den linken Backenzahn schon wieder kaputt geknirscht. Das erste Mal brach er zeitgleich mit meinem Studium entzwei. Nichts, was ein Zahnarzt und ein Dental Compound nicht wieder in Ordnung bringen könnten. Kein Grund zum Weinen, aber ich höre nicht auf.
Mein neuer Arbeitskollege, er ist der eigentliche Grund für meinen desolaten Zustand. Es ist den anderen schon aufgefallen, „du siehst aber fertig aus“, dabei versuche ich mich doch so gut es geht zusammenzureißen, die einzelnen Bestandteile an Ort und Stelle zu halten, und ich mache es schon wieder, ich synonymisiere und versuche selbst mein Tagebuch für Google zu optimieren.
Das ist mein täglich Brot, seit ich in Berlin bin. Ich schreibe SEO-optimierte Texte, produziere Content für ein sympathisches Unternehmen mit leicht chaotischen Strukturen: Produkttexte, Facebook, Newsletter und mehr oder weniger spannende Artikel zu einschlägigen Themen. Heute habe ich eine Landingpage mit doppelt einkopiertem Text an 40.000 Menschen geschickt. Feinheiten sind nicht meine Stärke, aber kein Problem, es ist ohnehin niemandem außer mir aufgefallen. Es scheint niemanden zu interessieren, was ich den lieben langen Tag da so mache, es kommt mir zumindest so vor, an einem meiner Arbeitsplätze.
Ja, ich habe gleich mehrere Schreibtische. Klingt luxuriös, ist aber in der Realität ziemlich demütigend. Zweimal die Woche muss ich den Platz für meinen neuen Kollegen räumen, dann sammle ich meine Post-Its und Entwürfe, packe Schreibkram, Locher und Tackernadelentferner in meinen Rollcontainer und schiebe das hellgraue Monstrum mit einer Hand über den Flur. Dabei summe ich leise „Proud Mary“ und halte mit der anderen Hand die rutschende Hose fest. Ein Maurerdekolleté vor der immer geöffneten Bürotür der IT-Abteilung würde alles nur noch schlimmer machen.
Es gab von vornherein keinen Platz für mich in dieser Firma. Ich wurde kritisch beäugt, meine Arbeit in Frage gestellt und meine Texte missmutig zur Kenntnis genommen. Ich bin die erste auf diesen zwei Bürostühlen, von denen der eine, der nur mir allein gehört, kaputt ist. Die Sitzfläche ist gebrochen, deshalb hat man ihn ausgemustert. Eigens für mich wurde er wieder aus dem Keller geholt. Und mein neuer Kollege, und das ist, was mich wirklich fertig macht, hat nicht nur einen eigenen Schreibtisch, nein, er hat auch einen perfekten Stuhl. Mit intakter Sitzfläche und schöner Rückenlehne.
Vielleicht liegt es an solchen Arbeitstagen, nach denen ich heulend durch den Regen laufe, dass ich zu einem verbitterten Schriftsteller geworden bin. Angefangen bei den langen Nächten in der Gastronomie, in denen ich Zechprellern im Anzug hinterherrennen musste, um am Samstagabend nicht fürs Arbeiten draufzuzahlen, bis zu den langweiligen Arbeitstage im High-End-Schmuckbereich, in denen das Warten auf Kundschaft mich regelmäßig in Sinnkrisen stürzte. Und die ersten Zweifel an meinem Lebenslauf, der nicht Richtung Schreiberkarriere, sondern Richtung Einzelhandel mit Führungsposition driftete. Jetzt lebe ich vom Schreiben und sogar noch in Berlin. Trotzdem ist da diese unüberhörbare Stimme in meinem Kopf, die sagt: Hätte ich doch nur etwas Anständiges gelernt.
„Warum interessiert sich niemand für meine Texte“ wird allzu leicht zu „Warum interessiert sich niemand für mich“? Das Los des Schreiberlings, ich habe es ja nicht anders gewollt. Es war ja schließlich meine Entscheidung, das verdammte Studium abzubrechen, um Romane zu schreiben. Das hast du jetzt davon.
Der Aschenbecher quillt über, an meinem feuchten Unterarm klebt eine Mischung aus Zucker, Tabak und Asche. Meine Jacke hängt in der Dusche und lässt tropfenweise Nass in die Wanne fallen. Ein nervenaufreibendes Geräusch, aber da muss ich jetzt durch. Ich hatte mir ja schließlich auch den verdammten Sommerregen in Berlin gewünscht, weil mir der wie Blei unter der Himmelskuppel klebende Hochnebel im Süden mit den Jahren auf mein sonniges Gemüt geschlagen war.
Ich denke an das blaue Kleid, das ich gestern aus einem Impuls heraus im SALE gekauft habe, und daran, dass es scheiße aussieht. Dann fange ich wieder an zu Heulen. Nicht, weil ich mir Fehlkäufe finanziell nicht leisten könnte, nein, das kann ich mittlerweile, sondern weil ich ein schönes Kleid so dringend gebraucht hätte. Ich habe mich verkauft, und sind wir doch mal ehrlich: Nicht nur um GEZ-Gebühren und Studienkredite zurückzuzahlen, sondern, weil ich mich nach all den schönen Dingen sehne, die ich in den letzten Jahren als armseliger Schriftsteller entbehren musste. Die inneren Werte interessieren niemanden. Zumindest nicht so lange es Zement gibt, den man über die Brüche schmieren kann.
Es ist nicht allein der kaputte Bürostuhl, der mich zum Heulen bringt. Es ist auch das: Mein Verlag wird alt.
Es gab diese lichten Momente des Anfangs, als die Sonne allein um uns zu kreisen schien. Es war eine Zeit des Neuanfangs und der Erstlingswerke, eine Zeit des Suchens und des Findens. Das galt für mich ebenso wie für meine Verleger. Meine Verleger, diese beiden Literaturfanatiker, die trotz allem nicht müde werden, in mir ein Talent statt einer gescheiterten Existenz zu sehen.
Es gab diese Zeit des Suchens und wir fanden, was wir suchten, fernab der umjubelten Hauptstadt, in Leipzig, anlässlich der Buchmesse 2016.
„Nix großes, aber du kannst bei uns schlafen, wir machen so eine Art Verlags-WG.“
Es war nix großes, es war phänomenal. Ein illustres Sammelbecken Schriftprägender fand sich in der billig angemieteten Wohnung ein. Matratzenlager wurden aufgeschlagen, die Anwesenden nach Schnarchintensität auf die Zimmer verteilt. Schnell war klar, dass die Airbnb-Wohnung normalerweise von einem rechtsgeneigten Bürger mit Hang zu Gelsenkirchener Barock und einem unübersehbaren Faible für Wehrmachts-Andenken bewohnt wurde. Die einschlägige Plattensammlung, die Hirschgeweihe an der Wand und die verdächtige Lücke im historisch gefüllten Bücherregal ließen keinen Zweifel daran: Wir waren dort falsch. Linksintellektuelle in Aufbruchstimmung trafen hart auf ostdeutsche Frustration. Wir machten das beste daraus, nahmen es mit Humor und rauchten heimlich in der Küche.
Morgens gegen zehn tranken wir dicken Kaffee aus den mit Swastiken übersäten Keramikbechern und aalten uns in den überwältigenden Eindrücken der Buchmesse und des fruchtbaren Austauschs, der in diesen absurd dekorierten vier Wänden stattfand. Zum Abschied wollten wir die verdächtige Lücke im Bücherregal mit dem kommunistischen Manifest auffüllen. Marx und Engels hätten sicherlich gut gepasst zwischen das Handbuch der strategischen Kriegsführung und die Geschichte des Deutschen Reiches.
Jetzt treffen wir uns verstohlen am Späti auf ein Radler – und das ist etwas, das sich dem denkenden Menschen nur schwer erschließt, wenn er nicht in Süddeutschland aufgewachsen ist: Ein Radler ist ein alkoholhaltiges Getränk, das man eigentlich nur dann konsumiert, wenn man danach noch Sport treiben möchte. Es klingt paradox, aber das ist es nicht, wenn man da aufgewachsen ist, wo Sonntag früh um zehn Uhr voll sein als gesellschaftlich akzeptabel gilt. Es gibt sogar ein Wort dafür: Frühschoppen.
Und wer so was macht, Radler trinken, abends, ohne bereits voll zu sein oder der Absicht, noch Sport zu treiben, der läuft ernsthaft Gefahr, am Sinn des Lebens vorbei zu vegetieren.
Mittlerweile ist mein zweiter Roman fertig und ich sitze zumindest teilweise auf einem recht komfortablen Bürostuhl. Aber der Wecker klingelt um sechs, der Druck ist groß. Und ich sehe es nicht zuletzt in den Augen meines Verlegers, die dunkel umrändert in morgendliche Spiegel schauen. Wir werden alt. Statt großer Worte viel Verwaltungsarbeit.
Die muntere Verlags-WG hat mittlerweile richtige Jobs und bucht für die Messen Hotelzimmer. Das ist angenehmer, wegen der Kinder.
Das sind die Leiden des jungen Literaturbetriebs, ja ernsthaft, so pathetisch will ich es ausdrücken, das aus den Kinderschuhen Herauswachsen, während andere Kinder im ganz unübertragenen Sinne in unsere Schuhe hineinwachsen. Das sind wir geworden: Professionell und geschäftsfähig, mit einer lahmenden Preisstute im Stall.
Vielleicht, so denke ich, während wir vor lauter Erwachsensein die Augen kaum noch offen halten können, sollten wir wieder werden wie ein Sommerregen in Berlin: laut und unbequem.
Während ich den Text las, sang Carole King you’ve got a friend. Das ist doch einer der besonderen Erfolge, die im duotincta – Universum gefeiert werden können: Freundschaft.
Und da der erste Roman großartig ist, wird es der zweite sicher ebenso sein.
Ich freue mich auf die Lesung.
Viele Grüße, ich bin sicher, es wird ein wunderbares Jahr.