Von der Normierung und Optimierung des Menschen

Heute ist der 18. Mai 2020. Am 18. Mai in einer zukünftigen Welt der Markenmenschen schreibt die junge Simone in ihr Tagebuch:

 

18. Mai

Ich habe versucht, mit Jean-Paul darüber zu
reden. Er versteht nicht, warum ich überhaupt noch über die
Möglichkeit, dich zu bekommen, dich zu behalten, nachdenke.
Er meint, die Schwangerschaftshormone würden
mich so durcheinanderbringen, dass ich nicht mehr vernünftig
denken könne.

„Aber hast du nicht in deiner Promotionsschrift die These
vertreten, dass es auch eine Stärke sein kann, wenn man
Menschen so akzeptiert, wie sie sind?“, versuche ich sachlich
zu argumentieren. „Hast du nicht von einer ganz anderen
Lebensqualität gesprochen, wenn Menschen nicht nach Gesundheit,
Schönheit oder Markendesign beurteilt würden?“

Jean-Paul schüttelte abwehrend den Kopf.

„Das ist zwar richtig. Ich habe versucht aufzuzeigen, dass
uns mit der Normierung und Optimierung der einzelnen
Menschen auch etwas verloren gegangen ist: die Fähigkeit
zur Toleranz, zum Ertragen von Unterschieden, ja vielleicht
sogar dazu, Abweichungen als Bereicherung und nicht als
Manko zu empfinden.“

„Eben!“

„Nein nicht: eben! Das Ganze ist eine gesellschaftliche
Frage und lässt sich auch nur gesellschaftlich lösen. Unser
Kind würde aber in unsere Gesellschaft hineingeboren, wie
sie nun mal ist, und müsste darunter leiden. Das können wir
doch nicht zulassen! Es wäre rücksichtslos und unverantwortlich
von uns. Hör auf, darüber auch nur nachzudenken,
Simone!“

 

Auszug aus Birgit Rabischs Roman „Unter Markenmenschen“ (S. 133)

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