Warum ich unter der Vergabe des Literaturpreises an Kazuo Ishiguro gelitten habe

Autorin: Birgit Rabisch

Ich weiß, man darf als Autor in den sozialen Netzwerken nicht über seine Gefühle sprechen, als Autorin schon mal gar nicht. Aber ich tue einfach mal so, als wüsste ich das nicht. Vielleicht wird ja klar, dass es mir im Wesentlichen nicht um meine persönliche Befindlichkeit geht, sondern um die Strukturen des Literaturbetriebs.

Nach der Bekanntgabe des Preisträgers für den Nobelpreis für Literatur wird in den Medien rauf und runter über den glücklichen Gewinner und sein Werk berichtet. Das ist wunderbar, denn wann sonst ist die Literatur ein so zentrales Thema.
Aber als ich hörte, dass in diesem Jahr Kazuo Ishiguro (dessen Werk ich sehr schätze) ausgezeichnet wird, ahnte ich schon, was auf mich zukommt: Lobeshymnen auf seinen Roman „Alles, was wir geben mussten“, wie ich sie schon beim Erscheinen des Werks 2005 lesen, bzw. mir anhören musste. Und immer wieder erfolgte der Hinweis darauf, wie visionär und weitsichtig der Autor sei, schon zu diesem Zeitpunkt ein Szenario entworfen zu haben, in dem geklonte Menschen als Ersatzteillager für Organspenden gehalten werden, so z.B. von Andreas Platthaus, FAZ, im Gespräch mit Hubert Winkels im Deutschlandfunk:
„Das war gerade 2005, als das Buch erschien und als wir mit dem Klonen natürlich noch nicht so weit waren wie heute, eine erstaunliche Zukunftsvision“

Ich gebe zu, das stößt mir bitter auf. Warum? Weil ich genau diese Zukunftsvision in meinem dystopischen Roman „Duplik Jonas 7“ entworfen habe, der 1992 (!) erschienen ist. Der Roman erlebt bei dtv zurzeit seine 20. Auflage, hat 174 000 verkaufte Exemplare, ist in mehrere Sprachen übersetzt worden, dramatisiert, ist Unterrichts- und Prüfungsstoff an vielen Schulen. Aber: die deutsche Literaturkritik kennt ihn nicht. Warum nicht? Eben weil er zu einer Zeit erschienen ist, in der das Thema noch nicht in der Luft lag. Und das hatte Folgen.

Ein kurzer Abriss zur Publikationsgeschichte:
Ich habe die Arbeit an „Duplik Jonas 7“ 1987 beendet. Die angeschriebenen Verlage fanden schon die Vorstellung von geklonten Menschen „abwegig“ und sahen in einem Ersatzteillager für Organspenden keine „erstaunliche Zukunftsvision“, sondern eine „abstruse Phantasie“. Also packte ich das Manuskript in die berühmte Schublade für gescheiterte Projekte. Irgendwann kam ich dann auf die Idee, es vielleicht noch einmal mit Jugendbuchverlagen zu versuchen. Und erstaunlicherweise fand ich im Georg Bitter Verlag eine begeisterte Lektorin. Das Buch erschien 1992 und wurde 1994 mit dem Umweltliteraturpreis NRW ausgezeichnet. Leider ging der Georg-Bitter Verlag in Konkurs, aber „Duplik Jonas 7“ erschien bei dtv 1996 als Taschenbuch, just in dem Jahr, als das Klonschaf Dolly geboren wurde. Ein Schaf ist ein Säugetier wie der Mensch. Seitdem konnte jeder wissen, dass wir uns schon bald auch mit dem Klonen von Menschen würden beschäftigen müssen. Und es gab in der Folge auch etliche Bücher mit dieser Thematik im In- und Ausland, dazu den Film Die Insel (2005).
Und bei fast jeder Lesung vor SchülerInnen werde ich gefragt: „Kennen Sie Die Insel? Haben die bei Ihnen geklaut?“ Nein, das haben sie so wenig wie Ishiguro bei mir geklaut hat. 2005 musste man nicht mehr visionär sein, um dieses Szenario zu entwickeln.

Fazit:
Warum wird die deutsche Literaturkritik 2005 von einem englischen Roman über Klone als Ersatzteillager überrascht? Weil sie den heimischen Roman nicht kennt. Und warum kennt sie ihn nicht? Weil er 1992 als Jugendbuch erscheinen musste, obwohl er für Erwachsene geschrieben war, und mit Jugendbüchern beschäftigt sich ein deutscher Literaturkritiker natürlich nicht. Also wird auch jetzt im Jahre 2017 wieder medienauf und medienab berichtet, wie weitsichtig und visionär Ishiguro 2005 war und ich höre und lese es und seufze leise und denke: Nicht wirklich.

Der gute Schluss:
Der Verlag duotincta hat jetzt eine von mir überarbeitete und aktualisierte Fassung von „Duplik Jonas 7“ herausgebracht, die neue Entwicklungen wie Genom-Editing, CRISPR/Cas usw. mit einbezieht. Nicht als Jugendbuch. Aber als E-Book. Deutsche Literaturkritiker und E-Books? Was glauben Sie?

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