Was Handtaschen mit Donald Trump und Thomas Melle gemein haben

Autorin: Stefanie Schleemilch (bei duotincta erschienen: Letzte Runde, Roman)

 

Es ging um den deutschen Buchpreis, es hätte aber genauso gut um den Publikumspreis des Grimme Online Awards gehen können. Bei facebook waren sich alle einig, also alle, die durch einen perfekt programmierten Algorithmus in meiner timeline anzeigt werden. Derselbe Algorithmus spielt mir abwechselnd Werbeanzeigen für Kapitalanlagen und Zahnersatz zu. Ersteres völlig grundlos (mein „Vermögen“ wird zum Überleben benötigt), letzteres wohl, weil ich meinen letzten Zahnarzttermin verbummelt habe. Allerdings wäre das nur eine Vorsorgeuntersuchung gewesen, darüber sollte ich facebook vielleicht mal informieren. Werbung für Organizer und Zahnseide würde also definitiv besser passen.
Man gewöhnt sich ja recht schnell daran, dass soziale Netzwerke und der iPhone Kalender mehr über den Nutzer wissen als enge Freunde. So wurde ich neulich wieder daran erinnert, dass ich mit einer teuren Handtasche liebäugle, sehr aufmerksam und irgendwie praktisch. Wenn ich diese schönen Dinge, in die man sein Geld investieren kann, wenn es zu viel ist um zu hungern und zu wenig für den Kapitalmarkt, auf dem Laptop meines Freundes google, dann bekommt er so kurz vor Weihnachten den Wink mit dem Zaunpfahl: Auf allen Seiten über foodpairing und Volvos verstecken sich plötzlich Liebeskind Taschen, eine schöner als die andere. Und nach zwei bis drei Wochen kommt er selbst auf die Idee, dass man mir eine davon zu Weihnachten schenken könnte.
Man (RTL Punkt12) sagt ja, dass der Inhalt einer Frauenhandtasche noch mehr über ihre Besitzerin aussagt, als die facebook timeline (Was ein eindeutiges Zeichen dafür ist, dass Mark Zuckerberg eben doch noch keinen uneingeschränkten Zugang zu unserem Privatleben hat, zumindest noch nicht). Das macht eben diesen scheinbar zufälligen Inhalt so unfassbar interessant und damit zum Inhalt großer Analysen. An der Form des Lippenstiftes kann man offenbar punktgenau das Sozial- und Sexualverhalten der Trägerin ablesen (kontrolliert, wild zügellos … Quellen hierzu gibt es sicherlich bei RTL now): Frauen mit vielen Handtaschen führen ein aufregenderes Leben als solche mit nur einem Standardexemplar, und von der Größe einer Handtasche lässt sich mit nahezu absoluter Sicherheit auf die Flexibilität ihrer Halterin schließen. Demnach sollte man als paarungsbereiter Junggeselle nach Frauen mit großen Handtaschen (in welche minimum ein Schlüpfer zum Wechseln, ein Lippenstift und eine Reisezahnbürste hinein passt) ohne Gebrauchsspuren (d.h. sie hat sicherlich nicht nur eine im Schrank und gehört somit nicht zu den langweiligen Muttis unter den Handtaschenträgerinnen) und einem Lippenstift mit deutlichen Gebrauchsspuren sowie einer Mulde in der Mitte (ein untrügliches Zeichen für Sinnlichkeit, und sind wir doch mal ehrlich, wir alle wollen Sinnlichkeit, selbst bei unserem Duschgel) Ausschau halten. Was meine Handtasche über mich verrät ist somit klar: Klein, kompakt, deutlich benutzt und zwischen Judith Butler und dem DIY Lippenbalsam steckt ein Tierabwehrspray …
Aber ich schweife schon wieder ab. Thomas Melle, auf den wollte ich eigentlich hinaus. Thomas Melle, da waren sich neulich alle einig, der hätte den Buchpreis verdient. Mit seinem „mutigen“ Buch, mit seiner „einmaligen Darstellung“ einer „Volkskrankheit“ (ich gebe es lieber gleich zu, die Zitate habe ich mir ausgedacht, aber die findet man bestimmt so oder so ähnlich in irgendwelchen Rezensionen). Was ich mir aber nicht ausgedacht habe, ist dass dieses Buch eine „Poetik des Authentischen“ (FAZ) sei, ein Buch für alle, die „nun wissen wollen, wie es wirklich ist“ (Amazon Kunde am 12.November 2016), eine „Pflichtlektüre für Medizinstudenten“ (Dr. Karl-Gerd Danner), „[e]in hartes Buch“, „aber am Ende Katharsis“ (Maria Lesmeister). Glücklicherweise ist auch Tobias Nazemi unter den Rezensenten. Ich kenne ihn von der Buchmesse, ein durch und durch sympathischer Mensch, mit dem ich im vergangenen Jahr in Leipzig vor allem über Benjamin von Stuckrad-Barre diskutiert habe. Nicht über sein Werk, sondern über seine Person. Denn, da waren wir uns sowas von einig, Stucki ist ein faszinierender Mensch, ein großartiger Autor und ein genialer Selbstvermarkter.
Und da wären wir endlich beim eigentlichen Thema: Im Wintersemester 2007/2008 habe ich Kunstgeschichte studiert. Ein kurzes Intermezzo bei dem ich lernte, dass Kunsthistoriker nicht, zumindest nicht nur, mit der Biographie des Künstlers arbeiten, denn das sei unprofessionell. Daraufhin habe ich Kunstgeschichte geschmissen. Denn mein Lieblingskünstler ist Francis Bacon, eine wahnsinnig schillernde Persönlichkeit, Hure, Messi, Sodomist. In Zeiten der Handtaschenanalyse ist es undenkbar, sein Werk von den berauschenden Geschichten über Spielsucht, Sex und das ödipöse Verhältnis zu seinem dominanten Vater zu trennen, die Mühe hat er sich ja nicht einmal selbst gemacht.
Ich gebe es zu, ich bin ein Voyeur und aus diesem Grund Schriftsteller und nicht Kunsthistoriker geworden. Ich liebe Abgründe, und werfe deshalb höchstpersönliche, grenzüberschreitende Blicke auf andere Menschen. Ich sehe sie, nehme sie wahr, bemerke ihre kleinen Marotten und analysiere sie mit dem Rüstzeug aus dem Psychologiegrundkurs in Grund und Boden. Bereits in der ersten Folge einer neuen Staffel Dschungelcamp oder Promi Big Brother kann ich den Favoriten vorhersagen, Potentiale erkennen und Comebacks prognostizieren. Ja, ich bin schon ein außergewöhnlich feinsinniger Mensch, oder einfach nur mit dem typischen Reality TV Skript vertraut.
Da gibt es immer den Typ Dschungelschlange, schleimige Vollpfosten und unzufriedene Starlets, sogenannte vermeintliche Lebensbeichter, die eigentlich nur davon zehren, sich selbst bloßzustellen, und die geläuterten Anführer, Machotypen á la Legat, die mit einem tränenreichen Zusammenbruch am Lagerfeuer glaubhaft darlegen, dass sie gar nicht ganz so scheiße sind, wie sie sind. Und nach 14 Tagen weiß eigentlich keiner mehr, was die Gescheiterten vor den Dschungelprüfungen mal gemacht haben. Viel interessanter ist deren Wandlung, die reinigende Katharsis (und da wären wir wieder bei Melle), die endlich die Gründe für ihr Versagen offenlegt: Missbrauch, Mobbing oder Uschi Glas.
Allen gemein ist, dass sie vermeintlich echt sind. Und die Band Glasperlenspiel dudelt uns den Floh ins Ohr: „Für diesen einen Augenblick sind alle meine Zweifel weg, weil es echt ist.“ Und so schließt Nazemi dann auch, dass Melle unterm Strich einfach besser ist als Stucki, oder zumindest „Die Welt im Rücken“ besser als „Panikherz“. „Melle hat gar nichts im Hinterkopf“ und am Ende rede er sich nicht mit Drogen raus, er sei einfach nur ehrlich.
Hm. Bemisst sich also der Wert eines literarischen Werkes neuerdings nicht mehr an Qualität oder Bedeutung, sondern an vermeintlicher Authentizität? Und wie echt kann das Subjektive sein? Woher wissen wir denn, dass Melle nicht alles einfach erfunden hat? Hat jemand seine Krankenakte gesehen? Ich will ihm bei Gott keine Lügen unterstellen, aber ist das am Ende nicht einfach scheißegal? Bleibt ein gutes Buch nicht auch dann ein gutes Buch, wenn Glasperlenspiel damit nicht einverstanden sind?
Wir sind die Vorhersehbarkeit leid, das stimmt. Wir brauchen kein klassisches Aktschema mehr, keine formalisierte Lyrik, kein Hollywood Happy End. Aber warum ersetzen wir das durch eine neue Typologie? Nach so vielen Katastrophenfilmen sind wir anscheinend endlich bereit für den realen Klimawandel. Hört auf zu reimen, öffnet eure Tagebücher und facebook-Accounts, es ist Zeit für wahre Abgründe, für real gefühltes Elend.
Und so erklärt sich dann auch so einiges, was in jüngster Zeit für sonderbar viel Empörung gesorgt hat: Donald Trump, der Albtraum der Arbeiterklasse und Feind der Minderheiten ist der neue Präsident der USA. Ich hatte es wie beim Dschungelcamp schon vorhergesehen. Es war zu offensichtlich, dass Hillary ihre eigene truthiness nicht offenbaren wollte. Eine Autobiographie, in der sie den gesellschaftlich längst überfälligen Abstand von ihrem betrügerischen Ehemann nimmt, das hätte sicherlich geholfen. Oder ein pathetischer Auftritt bei Oprah, in der sie ihre Abhängigkeit darlegt, ihre schwere Kindheit und sexistische Kommentare, die sie zur eiskalten Kämpferin gemacht haben. Sie hätte uns so viel erzählen können, leuchtendes Vorbild für masochistische Blankzieher und Futter für realitätsgeile Voyeure, und stattdessen bekamen wir nur Fakten und Krankenversicherungspläne, wie öde. Trump hingegen hat uns alle mit Pussys und Dummheit unterhalten, sogar grandios unterhalten. Wie sagt man so schön, Geschichten, die man sich nicht ausdenken kann. Er war so echt, dass Millionen von Menschen ihre Zweifel vergaßen.
Was wir davon haben, das brauche ich nicht mehr darzulegen. Katar ist ein schönes Land, so true, und Pole schmelzen nicht wirklich, es ist nur Sommer. Viel interessanter ist ja schließlich auch sein Verhältnis zu Melania, oder seine Tochter, oder die Ex-Frau, oder die andere Ex-Frau, oder die Nacktbilder dieser Ex-Frauen. Ich freue mich ehrlich auf seine Autobiographie, die könnte dem Wahnsinn eine Methode geben.
Tja, wie schließen wir diesen Kreis wieder? Im Zweifelsfall mit amazon Rezensionen: Melle schreibt nämlich nicht erst seit gestern Romane, nur war das anscheinend zuvor nicht sonderlich erfolgreich. „Das Buch ist reine Papierverschwendung“ (Dirki über Sickster), und „enthält augenscheinlich autobiographische Verstrickungen“, die „beängstigend“ sind (Markus F.). Ja, was fällt ihm denn auch ein, einfach Romane zu schreiben, die von tiefem Leid geprägt sind, ohne den Leser darüber zu informieren, dass es sein eigenes, entblößtes und somit legitimiertes Leid ist, das da so penetrant durch die Zeichen dringt? Ohne ein einziges Mal in einer Talkshow darüber zu sprechen? Was fällt ihm ein!
Und zurück bleibt dieses Gschmäckle, dieser schreckliche Verdacht, dass der Literaturbetrieb allmählich zum Dschungel Camp für Schriftsteller wird; zu einem Tummelplatz für Lebensbeichten am Lagerfeuer, wo man auch mal rausrotzen darf, dass Trump ja trotz allem viel für die Wirtschaft macht.
Bitte hört auf, die Legitimation von Literatur in brüchigen Lebensläufen zu suchen. Das ist nicht gut, schon gar nicht für die Menschen, die sich vor einer Welt entblößen müssen, die in deinem nächsten Zusammenbruch kein reales Lebensereignis, sondern lediglich Stoff für den nächsten Roman sieht. Oder Futter für Hartz-IV-TV. Macht diese Handtasche bitte schnell wieder zu.

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