Wie bin ich überhaupt hierhergekommen?

Vier Tage literarischer Luxus am Bodensee


Autor: Moritz Hildt

 

Diese Geschichte beginnt damit, dass ich am Karfreitagmittag im ausgestorbenen Stadtkern von Aulendorf stehe, ins Schussental hinabblicke, das sich wie ein endloses Unterland jenseits der Bahngleise auffächert, einen leisen Anflug von Panik zu unterdrücken versuche und mich wieder und wieder frage: Wie bin ich überhaupt hierhergekommen?

Ich muss zurück zum Bahnhof. Bald fährt mein Anschlusszug, der mich an den Bodensee bringen wird. Unfreiwilligerweise habe ich hier, an jenem seit dem 19. Jahrhundert regional bedeutsamen Eisenbahnknotenpunkt, eine Dreiviertelstunde Aufenthalt. Ich schaue auf die zwei Straßenkarten an einer Informationstafel nahe der Kirche, die heute so still ist wie der Rest des Ortes. Die eine zeigt die Oberstadt, die andere die Unterstadt. Eilig springt mein Blick von der einen Karte zur anderen; ich weiß, dass der Bahnhof unten liegt und ich bislang vor allem nach oben gegangen bin. Es dauert eine ganze Weile, bis mir auffällt, dass sich die beiden Stadtpläne in genau einer Hinsicht – und auch nur in dieser – unterscheiden: Die Oberstadt-Karte verzeichnet an ihrem nördlichen Ende eine einzige Straße mehr als die Karte der Unterstadt, die wiederum, als Alleinstellungsmerkmal, ein zusätzliches kleines Gässchen im Süden aufführt. Die restlichen fünfundneunzig Prozent der Karten sind deckungsgleich. Als hielte diese Erkenntnis auf eine verborgene, mir unzugängliche Weise den Schlüssel zur Lösung meines Problems bereit, finde ich im nächsten Moment meinen Standort auf der Karte (auf beiden Karten), und der Weg, den ich einschlagen muss, liegt klar vor mir.

Zwei Stunden später betrete ich das Hotel Schwärzler in Bregenz und es geschieht etwas, was mir noch nie passiert ist: Von der Direktorin eines Vier-Sterne Hotels werde ich persönlich und mit Handschlag begrüßt. Weil ich Schriftsteller bin. Und wieder ist da diese Frage in meinem Kopf: Wie bin ich überhaupt hierhergekommen?
Die Organisatoren – neben der Hoteldirektorin Susanne Denk sind es der Schriftsteller Wolfgang Mörth von Literatur Vorarlberg und Hubert Dragaschnig, seines Zeichens künstlerischer Leiter des Theater Kosmos in Bregenz – haben über die Ostertage zehn Autorinnen und Autoren hierher eingeladen, die aus so ziemlich allen den Bodensee berührenden Ländern stammen; ein Liechtensteiner ist auch mit von der Partie.
Etwas später stehen wir zehn, zusammen mit den Organisatoren, in der Lobby. Worte werden schnell gesprochen, damit sich bloß keine Stille auftut, und kleine, eilige Schlucke aus dem hauseigenen Aperitif genommen, der in Gläsern mit langem Stiel serviert wird, an denen man sich prima festhalten kann. Augenkontakt hier, dort. Ein Anlächeln über eine Schulter. Wem hat man sich noch nicht vorgestellt? Ist jenes Gesicht auch unter denen, die im Programmheft abgedruckt sind? Ich muss an die Amerikaner denken, an ihre bewundernswerte Gabe, sich die Namen der ihnen einmal Vorgestellten nicht nur treffsicher zu merken, sondern sie auch sofort im Gespräch zu verwenden. Zwischen nach außen getragener Souveränität und nach innen brodelnder Neugier beginnt der Abend.

Später, viel später, stehe ich auf dem Balkon des Hotelzimmers und schaue hinüber zum Pfänder, dem Begrenzer Hausberg. Der Kopf ist mir leicht und die Gespräche des Abends hallen darin nach, der über das Kennenlernen und ein feines Menü noch bis weit in die Vorarlberger Nacht fortgeführt wurde, an der Hotelbar, an der die Direktorin zehn fassungslos starrenden Gästen eröffnete, dass die Bar für die gesamte Dauer ihres Aufenthaltes offen und kostenlos sein würde, selbstverständlich.
Meine Neugier ist fürs erste befriedigt, oder es ist die bleierne Müdigkeit, die sie zum Schweigen bringt. Vermutlich, weil ich vorhin an das beneidenswerte Vornamengedächtnis der Amerikaner gedacht habe, fällt mir jetzt Ernest Hemingway ein, der in Schruns, ganz in der Nähe muss das sein, zwei Winter verbracht hat, glückliche, produktive Winter, in denen er noch mit Hadley, seiner ersten Frau, verheiratet war, das Manuskript zu Fiesta überarbeitete, mit einem Hund namens Schnauz lange Wanderungen unternahm, noch keinen Vollbart trug und sich seine Haare wachsen ließ, bis sie so lang waren wie die seiner Frau.

Am nächsten Abend kommen wir alle wieder in der Hotellobby zusammen, wo wir uns inzwischen wie alte Bekannte finden. Wir nähern uns dem Höhepunkt dieser Literaturtage, einer gemeinsamen Lesung, für die wir alle kurze Textvignetten vorbereitet haben. Neben dem exakt festgelegten Umfang ist die Vorgabe, dass unser kleiner Text zwei bestimmte Worte und einen kleinen Satz enthalten soll.
Während nach und nach das Publikum eintrifft, neben geladenen Hotelgästen auch viele Bregenzer, stehen wir plaudernd beieinander. Den Tag über saßen wir zusammen, stellten uns unsere Arbeiten vor und sprachen über Kinderperspektiven, Körperfragmente und im Dorfteich versenkte Vergangenheit. Auch das ist etwas, was diese Tage bewirken: ein Gefühl der Verbundenheit; dass viele da draußen sind und es versuchen, genauso wie man selbst es versucht, und dass Beharrlichkeit eine Tugend ist, die für uns wohl mindestens ebenso wichtig ist wie unverhohlene Neugier.
Wenig später beginnt die Veranstaltung. Von unserem langen Tisch steht einer nach dem anderen auf, um auf die kleine Bühne hinaufzusteigen. Dort ist gerade Platz für einen schmalen Tisch, einen bequemen Stuhl und ein Mikrofon. Zwischen den Minilesungen raut es im Publikum, Tipps für die Worte, die in allen Texten vorkommen, werden ausgetauscht, diskutiert, verworfen.

Später wird es ein Vier-Gänge-Menü geben, bei dem ich das Glück haben werde, am Tisch eines vergnügten oberschwäbischen Ehepaars und zwei lebhaften Damen aus Zürich und München platziert zu werden, mit denen das Tischgespräch nicht nur mühelos, sondern auch fröhlich sein wird. Und morgen wartet eine exklusive Führung durch das Begrenzer Kunsthaus auf uns und eine Probe im Theater Kosmos, der wir beiwohnen werden dürfen. Aber das wird morgen sein.
Jetzt ist da die Bühne. Ich bin an der Reihe. Mit meinen drei Blättern, auf denen meine Geschichte steht, gehe ich die wenigen Schritte zum Podium. Es ist dieser Moment, in dem sich das prickelnde Lampenfieber in jene süße, gebündelte Aufmerksamkeit wandelt, in ein völliges Hier-und-Jetzt-Sein.
Ich passiere meine Mitstreiter. Einige von ihnen nicken mir mit schon gelöstem Blick zu, bei anderen geht der Blick nach innen und das Prickeln ist noch da. Wir alle sind hier, weil wir schreiben. Selten bedeutet dieses Leben einen derartigen Luxus, wie wir ihn während dieser Tage in einer atemberaubenden Großzügigkeit erfahren. Und doch … Und doch weiß ich, während ich die zwei Stufen hinaufgehe und mich auf den Stuhl setze, dass, wenn es so etwas wie Glück gibt, das hier, was ich gerade tue, verdammt viel damit zu tun hat. Und dass es nicht wichtig ist, wie man hergekommen ist. Denn das Leben, das wissen wir alle, wird nie anders als nach vorne gelebt.

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