Wir wollen den Misserfolg!

Autor: Lutz Flörke

 

„Wir wollen den Misserfolg!“ heißt es in meinem Roman Nebelmeer #7 gleich auf der ersten Seite. Seit er erschienen ist, werde ich gefragt, ob ich denn in meiner Jugend wirklich den Misserfolg gewollt hätte. Jemand, der erfolglos ist, gilt ja als Versager. Immer wieder werden wir alle ideologisch auf den Erfolg festgelegt. Von Ich-AG bis zur Selbstoptimierung das gleiche Bild: Permanent soll ich über mich hinauswachsen, um erfolgreich zu sein.

Meist folgt dann noch die Bemerkung, so ganz könne der Satz „Wir wollen den Misserfolg“ nicht stimmen, schließlich wolle ich doch mein Buch verkaufen, oder?

Aber der Satz bedeutet nicht „Wir wollen nicht erfolgreich sein.“ Er unterstellt vielmehr, man könne (sogar) den Misserfolg erfolgreich wollen. Der gewollte und erreichte Misserfolg sozusagen als Erfolg gegen die Erfolgsideologie, der er aber doch wieder folgt, denn ein erfolgreicher Misserfolg ist schließlich auch ein Erfolg.

Wenn man das Problem darauf verkürzt, dass jemand keinen Erfolg will, ist der Witz weg.

Die Frage, ob ich in meiner Jugend tatsächlich den Misserfolg gewollt hätte, zeigt, dass große Teile des Publikums fiktionale Texte als biografische lesen. Dagegen hat die Autorin Birgit Rabisch einmal sinngemäß formuliert: „Ich nutze mein Leben als Steinbruch für meine literarische Arbeit.“ Das Leben ist Material.

Mein Roman ist ein fiktionaler Text. Ich schreibe keine Geschichten aus meinem oder über mein Leben. Sondern ich schreibe Geschichten. Und sicher nutze ich dabei biografisches Material, das sich im Schreibprozess allerdings stark verwandelt. Denn beim literarischen Schreiben entwickelt die Sprache ja eine starke Eigendynamik. Wenn ich sie lasse.

Fiktion bedeutet nicht, dass ein Roman „bloß“ erfunden wäre, sondern er ist bewusst erfunden. Das Wichtigste ist nämlich das Erzählen selbst: Aus einer bestimmten Perspektive mit Hilfe bestimmter Muster werden Personen, Handlungen, Ereignisse erzählt und bewertet. Leserinnen und Leser können sie interpretieren, reflektieren, sie ins Verhältnis setzen zum eigenen Leben. Entscheidend: Sie müssen sich der fiktionalen Erzählung nicht unterwerfen. So gesehen ist Fiktion mehr als „bloße“ Wirklichkeit.

Viele, die von Wirklichkeit sprechen, glauben, sie könne nur so beschrieben werden, wie sie es gerade tun. Diese monolithische und angeblich über den sozialen Verhältnissen stehende Sprache ist mir immer recht autoritär vorgekommen.

Wer einen Roman erzählt oder liest, ahnt, dass die Wirklichkeit auch anders sein könnte. Erzählen ist ein Gesprächsangebot zur Frage, was wirklich ist, kein endgültiges Urteil.

 

Lutz Flörke studierte deutsche Literaturwissenschaft und wurde zum Dr. phil. promoviert. Seitdem arbeitet er als Autor, Performer und Dozent überall, wo er mit seinen Vorstellungen von Literatur Geld verdienen kann. Er lebt in Hamburg und erhielt Förderpreise des Landes Niedersachsen und der Stadt Hamburg. Sein Erzählband „Alles so schön grün hier – Versammelte Fälle und Geschichten“ entstand in Zusammenarbeit mit Vera Rosenbusch. Ihr gemeinsames Stück „Traumwohnung. Ein Lesedrama“ feierte Premiere 2017. Im September 2018 erschien bei duotincta sein Debütroman „Das Ilona-Projekt“, im Juli 2021 sein zweiter Roman „Nebelmeer #7“.

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