Engel im Schatten des Flakturms: Der Ich-Erzähler, Stidmann und die Gräfin im Garten der Villa in Wien-Döbling

Über Bilder im Kopf und Bilder an der Wand

 

von Michael Kanofsky

 

Das ist merkwürdig: Da dachtest du, mit dem Abschluss deines Romans wären auch deine Figuren in den Seiten und zwischen den Buchdeckeln verschwunden. Doch plötzlich tauchen sie wieder auf, der Ich-Erzähler, der Literaturwissenschaftler Dr. Franz Stidmann und die Gräfin. Da sitzen sie: im Garten der Villa der Gräfin im 19. Wiener Gemeindebezirk, in Wien-Döbling. Offenkundig ist es einer jener Sommer, in denen es noch nicht so heiß ist, dass man in das Haus flüchten müsste. Man sitzt an einem Gartentisch, bei Tee und Kaffee und Gebäck unter hohen Bäumen, zwischen denen die Sonnenstrahlen herabfallen. Hübsch, dieses Service der Porzellanmanufaktur Augarten, nicht wahr?

Da sitzen sie also, es scheint, sie sind ganz vertraut miteinander, der Ich-Erzähler, Stidmann und die Gräfin. Die trägt wie zu erwarten ihr hübsches Sonnenhütchen, während der Ich-Erzähler und Stidmann jeder einen gewöhnlichen Hut auf dem Kopf haben, und wir fragen uns, warum sie ihre Hüte nicht abgelegt haben? Unhöflich sind beide bekanntermaßen nicht. Dem Ich-Erzähler klemmt übrigens, ganz lässig, ein Zigarettchen zwischen den Lippen, und du fragst dich jetzt, ob die Tatsache, dass er Raucher ist, in deinem Roman Erwähnung gefunden hat? Dr. Stidmann, der an der hinteren Stirnseite der sommerlichen Tafel sitzt, erinnert uns ein wenig an Joyce in seiner Zürcher Zeit. Die drei schweigen, dabei hätten sie sich sicher viel zu erzählen. Aber das steht ja alles in deinem Roman, wo auch die drei Figuren ihr Zuhause haben, die du nun zufällig wiedergetroffen hast: auf einem Bild, das auf einer Wand in einem Zimmer in einer Wohnung hängt, wo du zu Gast bist. Diese Wohnung gehört zur Alten Büdnerei in Kühlungsborn, einem Ort in Mecklenburg-Vorpommern bei Rostock und also Lichtjahre und Welten von dem Garten der Villa der Gräfin in Wien-Döbling entfernt. Doch dieser Ort, Wien-Döbling, steht mit einem Mal wieder ganz klar und nah vor deinen Augen, während du dieses Bild betrachtest, hübsch gerahmt ist es, und es hat auch einen Titel: A Memory of Avignon, sein Schöpfer: Edward Fitzmaurice Chambré Hardman, ein in Dublin im Jahr 1898 geborener und 1988 in Liverpool verstorbener Porträt- und Landschaftsfotograf. Du musst zugeben, dass du bisher nichts von diesem Mann wusstest. Hoffentlich ein verzeihliches Versäumnis im schmalen Kanon deines Wissens. Jedenfalls hängt sein Foto A Memory of Avignon hier an der Wand in diesem Raum in der Alten Büdnerei in Kühlungsborn. Und es evoziert in dir sogleich die Welt deines Romans Engel im Schatten des Flakturms. Du fragst dich warum? Die Literatur ist romantisch, sagt Peter Handke. Er hat damit sehr vieles gemeint. Vielleicht auch dies: mit dem Schreiben erfüllt sich der Schriftsteller Sehnsüchte, die zu stillen uns auf andere Weise nicht wirklich gelingt. Wir schmücken unsere Häuser und Wohnungen mit Versatzstücken aus den alten Zeiten, verwandeln Wohnzimmer in englische Salons und Reihenhausgärten in Idyllen aus der Provence. Gut und schön. Aber erst im Schreiben, im Erinnern und Er-Innern, lassen wir die Dinge wieder auferstehen. Schau doch mal, wie schön es war, damals in diesem Sommer in Avignon! Du erinnerst dich doch bestimmt? Der Duft der Blumen? Das Licht der Sonne? Das Rauschen des Baches? Das Lächeln der hübschen Frau mit dem Sonnenhut? Wird dies alles jemals wiederkehren?

Doch bald wird es Zeit, Abschied zu nehmen. Du wirfst dem Bild an der Wand, dieser Fotografie von Mr. Chambré Hardman, auf denen sich drei deiner Romanfiguren eingefunden haben, einen letzten Blick zu. Au revoir!

Dann fährst du zurück nach Berlin, immerhin verringerst du mit diesem Akt die physische Entfernung nach Wien (und übrigens auch nach Avignon, falls es dich einmal dorthin verschlagen sollte), jedenfalls kehrst du zurück an den Schreibtisch, der vor dem Fenster steht mit Blick auf den Kanal, und wo du jetzt, in diesem Moment, das Buch mit dem Titel Engel im Schatten des Flakturms aufschlägst und deine Figuren davonfliegen lässt, den Ich-Erzähler zum Beispiel, der mit dem Hut auf dem Kopf und der Zigarette im Mundwinkel, und der schon bald in einem weiteren Roman von sich reden machen wird.

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