Bei der 2018er Auflage der Leipziger Buchmesse war vieles nicht, wie es sein sollte. Dichtes Schneegestöber, graue Kälte, braune Seelen … Aber es gab auch so vieles Positives: #VerlageGegenRechts, neue Bekanntschaften, alte Freundschaften, sieben mit 50 bis 70 Zuhörern voll besetzte duotincta-Lesungen, mit Putzfrau bei den Beatles von Birgit Rabisch und ZwischenLand von Kathrin Wildenberger gleich zwei Novitäten und natürlich die vielen kleinen und großen Begebenheiten, alles, was eine Buchmesse so mit sich bringt.
Aber weil es so ungewöhnlich war und weil uns die Frühjahrslesung der #4Lesezeiten bei Schneefall vor dem Fenster zwei Tage nach der Messe noch in den Knochen steckt, wird dieser Messerückblick auch eher ungewöhnlich. Denn wo uns Graubärten so langsam die Energie ausging, haben einige unserer AutorInnen die noch klammen Finger zum Aufwärmen auf die Tastatur gelegt und ihre Eindrücke für das duotincta-Blog gesammelt …
Viel Vergnügen beim Lesen!
Es tut sich was ‒ Rückblick auf die Leipziger Buchmesse
Autoren: Vera Rosenbusch und Lutz Flörke
Gerade rollten wir unsere Koffer in die Halle des Leipziger Hauptbahnhofs, da rief plötzlich eine Männerstimme:
– Herr Flörke! Herr Flörke.
Nanu? Wer weiß denn, wer hat denn, wer ist das denn?
Ein dick eingepackter Mann mit Bart und Mütze.
– Ansgar Köb, stellt er sich vor.
– Sie sehen so anders aus, sage ich.
– Das liegt an der Mütze.
Er zieht sie ab. Jetzt ähnelt er dem Foto auf der Website des „Verlags duotincta“. Lutz’ Roman „Das Ilona-Projekt“ soll im September dort erscheinen. Den Mann neben ihm kenne ich nicht, aber, wie sich herausstellt, sein Buch. Es ist Wolfgang Eicher („Die Insel“), ebenfalls angereist zur Buchmesse.
Bernhard Schlink sei schon eingetroffen, jetzt auch wir. Die beiden von duotincta warten auf Jürgen Volk, mit dem sie heute noch den Stand aufbauen wollen. So herzlich willkommen gleich hier auf dem Bahnhof ‒ schon fühlen wir uns heraus- und aufgehoben.
Erster Buchmessentag
Wir drehen unsere erste Runde durch die Hallen, in diesem Jahr mit einem Fixpunkt in all dem Gequirl aus Menschen und Geschäften, dem Stand „unseres“ Verlages.
Kaffeetrinken und Quatschen mit Kollegen. Birgit Rabisch ist da, Bernd Martens, Daniel Breuer … Verleger Jürgen Volk kommt dazu:
– Schön, dass Ihr da seid. Wir duzen uns doch, oder?
Er zeigt uns die Verlagsvorschau = 4 (!) Seiten über „Das Ilona-Projekt“, das – toi, toi, toi, für September angekündigt ist:
„Lutz Flörke legt in seinem vielschichtigen Debüt einen Roman über die zeitgenössische Sehnsucht nach einem Leben als Hauptperson und den Hunger nach Geschichten vor. Skurril und von grotesker Komik.“
Ist schon toll, sich selbst so vorgestellt zu sehen.
Abends im Gewölbekeller einer Kneipe die erste Veranstaltung: Autoren/innen von vier unabhängigen Verlagen lesen aus ihren Veröffentlichungen.
Birgit Rabisch stellt ihren neuen Roman „Putzfrau bei den Beatles“ vor, ganz frisch aus dem Druck. Schade, dass der Titel nicht uns eingefallen ist. Es geht um eine WG von vier altgewordenen 68ern, die einst zusammen in einer Band gespielt haben. Die Beatles waren sie leider nicht, trotzdem reden sie sich mit Ringo, George, John und Paul an. Nun engagieren sie eine junge Putzfrau und dann taucht noch ein angeblicher Enkel auf … Trotz des unterhaltsamen Titels macht das Buch nicht nur Spaß, sondern es ist auch richtig kluge Dichtung.
Was macht Literatur zur Dichtung? Wenn sie über sich selbst nachdenkt, über ihren Sinn und Zweck, ihr Ziel und ihre Möglichkeiten. Dichtung sucht nach Wegen aus dem Selbstverständlichen, denn nur, was sich nicht von selbst versteht, kann geändert werden.
Die altgewordenen „Beatles“ stehen vor dem Problem, Popkultur, Glamour und ewige Jugend lügenlos zu verbinden mit der Notwendigkeit von Alltag, Ökonomie und Älterwerden.
Wolfgang Eichers neue „Freiheitsstatue“ klingt ebenso skurril wie sein letzter Roman, den ich in einem Zug durchgelesen habe. Sein Faible für abseitige Liebesgeschichten gefällt mir. Die duotincta-Autoren Daniel Breuer und Kathrin Wildenberger entwerfen ebenfalls höchst eigene Erzählungen, von denen wir gern mehr gehört hätten, aber schließlich wollen Bücher ja auch daheim und in aller Ruhe gelesen werden. Wir erwerben ein paar Bände. Dann sind die Köpfe übervoll und wir können noch lange nicht schlafen. So aufregend kann die Buchmesse sein.
Zweiter Buchmessentag
Am Abend präsentiert Kathrin Wildenberger, die in Leipzig lebt, in einer großen Buchhandlung ihren neuen Roman „ZwischenLand“. Wir ergattern die vorletzten Sitzplätze. Eine Geschichte über junge Leipziger Hausbesetzer in der unmittelbaren Nachwendezeit, die ihr Leben und Lieben organisieren, jederzeit bedroht durch die Nazis.
Hinterher beim Italiener ziehen wir über eitle junge Dichter her, Männer, die glauben, sie könnten dem Widerspruch zwischen ihrem Verlangen und dem Alltag entkommen, indem sie predigen. Sie plustern sich auf, sagen dann aber doch nur, was alle eitlen jungen Männer sagen, ob Dichter oder nicht: Die Welt ist schlecht, ich aber sage euch, wie toll ich bin.
Müde, aber aufgekratzt fallen wir ins Bett. Gut, dass wir morgens ausschlafen können.
Letzter Buchmessentag.
Noch einmal zum Stand des duotincta-Verlags.
Jürgen entwickelt mal eben weitere Ideen für die Werbung zu Lutz’ neuem Roman und entwirft zusammen mit Vera ein Konzept. Dann das große Abschiednehmen. Und Termine machen. Und Adressen austauschen. Und, und, und.
Das war die aufregendste Buchmesse unseres Lebens. Aber die nächste wird bestimmt noch …
Als mein Verleger das letzte Schnitzel mit mir teilte
Autor: Wolfgang Eicher
Nach einem langen, ereignisreichen Tag auf der Leipziger Buchmesse erreichten mein Verleger Jürgen und ich das Beyerhaus in der Leipziger Innenstadt um etwa halb acht. Ich hatte diesen Tag noch nichts Vernünftiges gegessen …
Der Beginn der Lesung war für halb neun angesetzt, also Zeit genug, um ein Schnitzel zu bestellen und zu sich zu nehmen. Wie immer vor einer Lesung hatte ich jedoch keinen Appetit. Jürgen erging es ähnlich. Da er jedoch wusste, dass sein Hunger und sein Appetit nach der Lesung sehr intensiv zurückkommen würden, bestellte er, was ich wiederum nicht wusste, ein Schnitzel auf nach der Lesung. So intelligent war ich nicht.
Mein Teil der Lesung verlief gut, wenngleich mit halbstündiger Verspätung. Bis alle gelesen hatten, war es dreiviertel zwölf und mein Hunger erwachte. Ich fragte und erfuhr, dass die Küche schon seit zehn Uhr geschlossen war. Währenddessen wurde meinem Verleger das bestellte, Schnitzel serviert. Das letzte Schnitzel in ganz Leipzig … Da sah er mich in meinem Dilemma und er zögerte nicht, mir die Hälfte seines Schnitzels anzubieten. Wie konnte ich ablehnen? Da nahm er das Schnitzel, teilte es und – weil wir in Leipzig waren, nicht am See Genezareth und weil es Schwein war und kein Fisch, blieben es zwei Schnitzelhälften. Ich aber, halb verhungert, nahm die nun meinige dankbar an und verschlang sie gierig. So geht es wohl nur bei der duotincta zu …
Besinnungsaufsatz: Messebesuch mit meiner Putzfrau
Autorin: Birgit Rabisch
Meine „Putzfrau bei den Beatles“ und ich haben uns beherzt ins Getümmel der Leipziger Buchmesse gestürzt.
Am Donnerstagabend hatte meine Perle ihren ersten Auftritt bei einer Gemeinschaftslesung im Beyerhaus. Leider war es dort erbärmlich kalt, ein Vorgeschmack auf das, was da noch kommen sollte.
Der Freitag war angefüllt mit vielen, vielen Gesprächen mit meinen Verlegern, den lieben Autorenkolleg*innen, Buchblogger*innen, z.B. Silvia Walter, Buchhändler*innen, vor allem Angelika Abels (in deren Büchergarten ich am 13.9. lesen werde) und Leser*innen. Am Abend dann die wunderbare Lesung von Kathrin Wildenberger in der Thalia-Buchhandlung und zur Stärkung ein hervorragendes Essen beim Italiener.
Mein vieles Gesabbel hatte leider einen Preis: Am Sonnabend war meine Stimme weg! Schweren Herzens bin ich in meiner Unterkunft geblieben, habe grimmig geschwiegen und mit Salbei gegurgelt, damit meine Lesung am Sonntag nicht zur Performance „Krächzende Autorin“ geraten möge. Statt Messebesuch habe ich den Kindern im Hinterhof bei einer Schneeballschlacht zugeschaut. Immerhin bin ich so nicht in das Verkehrschaos im winterlichen Leipzig geraten. Und mit der Stimme hat es auch geklappt!
Am Sonntag konnte ich bei meiner Premierenlesung meine Putzfrau offiziell der geneigten literarischen Öffentlichkeit vorstellen. Nach einer tollen Einführung des duotincta-Verlegers Jürgen Volk wollte sich das Mikro mir zuerst verweigern, doch danach konnte ich mit seiner tatkräftigen Unterstützung den zahlreichen Zuhörer*innen von meiner „Putzfrau bei den Beatles“ und ihren Abenteuern erzählen.
Am Abend hatte ich zum Glück eine problemlose Heimreise mit der DB und bin erschöpft, aber glücklich ins Bett gefallen.
Der Weg, das Ziel und die Bierbar dazwischen
Autorin: Stefanie Schleemilch
Freitag, 16.03.18
Es soll Menschen geben, die sich auch in diesem Jahr auf die Buchmesse in Leipzig gefreut haben. Ich gehöre nicht dazu. Die Fahrkarte längst gebucht, ab 14.00 Uhr Überstunden eingereicht, alles bestens geplant. Und trotzdem kommt bei mir keine rechte Lust auf, am großen Verlagsschaulaufen teilzunehmen. Selbstdarstellung, gegenseitige Beweihräucherung, zeigen was man kann. Ich bin nicht gut darin, das weiß ich längst. Unter Umständen bin ich darin viel zu schlecht. Und wenn ich nur an Blogger denke, eigentlich will ich gar nicht an die denken, nicht an die Meinungen, nicht an die Rezensionen, nicht an die schlechten, aber auch nicht an die guten. Ich freue mich ja auf die Kollegen, auf die Besucher, sogar Fans scheine ich zu haben, ein paar wenige. Aber ich bin müde.
„Was fehlt Ihnen zum Glück?“
Diese Frage stammt aus dem Frageboden von Max Frisch und wurde mir neulich in einer verrauchten Altbauküche in Neukölln von einem meiner dienstältesten Weggefährten gestellt. Wahrscheinlich wollte er nur das peinliche Schweigen vermeiden, das sich immer wieder zwischen uns einstellt, seit wir vor 15 Jahren eine Nacht miteinander verbracht haben. Doch stattdessen erwischte er mich eiskalt und dazu noch auf dem falschen Fuß.
Da war der Umzug letztes Jahr, der Roman, der mir am Ende alles abverlangt hat, der neue Job, der großartig ist, aber manchmal zu viel. Ich komme nicht mehr hinterher mit dem Leben, und wo sich dreckige Wäsche stapelt, da tun es auch die Gedanken.
„Viel, aber ich weiß nicht was.“
Was Besseres fiel mir damals in Neukölln nicht ein, auch heute nicht.
Deshalb versuche ich einfach, meine Kraft auf das Nötige zu konzentrieren. Hetze die 20 Kilometer vom Büro in Spandau in die Wohnung im Prenzlberg, gehe duschen, rasiere mir die Beine, stopfe die Daunendecke in die Reisetasche und binde die Yogamatte mit Gummibändern zusammen. Mal wieder eine duotincta-WG, das wird bestimmt toll. Nur noch einen Moment mit den Gedanken allein sein, nur noch in Ruhe eine letzte Zigarette rauchen …
Es passiert, was immer passiert, wenn ich nicht mehr weiterweiß: Mir wird übel, mein Magen zieht sich zu einer Schlinge zusammen und der schleimige Muskel beginnt mit unkontrollierbaren Kontraktionen die KFC-Pommes vom Mittag wieder loszuwerden. Stressbedingter Reflux, ein Überbleibsel meiner Jugend. Ich wäge ab, ob der Reiseantritt Sinn macht.
Häufiger auch mal Nein sagen, das hat mir mein Physiotherapeut geraten, sonst gehen die Verspannungen im Kiefer nie weg. Also buche ich ein neues Ticket ohne Sitzplatzreservierung für morgen früh. Geplante Ankunft in Leipzig: 8.40 Uhr. Ich führe die nötigen Telefonate, kaufe im Rewe zwei Smoothies, Detox und Energy, einen fürs Abendessen, einen fürs Frühstück. Ich schaffe das schon, sage ich mir immer wieder. Ich schaffe das schon.
Samstag, 17.03.18
Es ist 7.22 Uhr, ich verfasse eine SMS mit dem Inhalt „Ich bin im Zug und komme dann erst mal direkt in die Wohnung“. Um meine Freude zu unterstreichen, setzte ich eine Knalltüte mit Konfetti hinter die Buchstaben. Die Mühe, einen Sitzplatz im Abteil zu finden, mache ich mir erst gar nicht. Ich bahne mir direkt den Weg ins Bordbistro, schiebe meine Reisetasche mit dem Fuß, so gut das eben geht, aus dem Weg und setze mich auf das trügerisch einladende rote Polster. Der Zug verlässt pünktlich den Berliner Hauptbahnhof Richtung Süden, eine freundliche Stimme mit sympathisch bayrischem Einschlag wünscht mir über den Lautsprecher eine gute Reise, und ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen.
Zuerst fällt mir das leicht verbrauchte Pärchen in Eintracht Frankfurt-Fankluft auf, er hat sein Bier fast schon ausgetrunken und freut sich offensichtlich mehr als sie auf das Eintracht Spiel. Dann lenken knisternde Lebensmittelumverpackungen neben mir meine Aufmerksamkeit auf einen Mann um die dreißig. Sorgfältig packt er den Inhalt eines gut gefüllten Kühlschranks aus seinem Rucksack aus, dazu frische Brötchen, hellrote Tomaten und ein Buttermesser. Ich erinnere mich an meinen Energy-Smoothie und krame angesichts der Vielfalt fester Nahrung neben mir lustlos in meiner großen Reisetasche, in der ich das kleine Plastikfläschchen zwischen Daunendecke und Kopfkissen finde.
Einer älteren Dame mit grauem Haar spielt unentwegt ein Lächeln um die Lippen, dazu trinkt sie Kaffee aus dem Pappbecher.
Das wirklich interessante an dieser illustren Fahrgesellschaft befindet sich aber direkt gegenüber: zwei junge Männer im Anzug mit roter Krawatte und einem halben Kisten Bier. Und dieses Detail ist ebenso wichtig wie die geplante Ankunftszeit, denn, das werde ich in etwa drei Stunden erfahren, die Flaschen sind abgezählt, die überflüssige 11. wurde sogar am frühen Morgen aussortiert, damit man die Wegzehrung gerecht unter Zweien würde aufteilen können.
Neben mir werden Aufschnitt und Frischkäse wieder ordentlich im Rucksack verstaut. Ein Eintracht Frankfurt-Fan aus einem anderen Abteil bringt neues Bier, sie spielt weiter desinteressiert mit ihrem Handy. Ein vorbeieilendes Kind stolpert über meine Tasche, bleibt aber glücklicherweise an meinem Schuh hängen und findet schnell das Gleichgewicht wieder.
Es scheint nur zwei Ziele an diesem Samstagmorgen zu geben: die Buchmesse in Leipzig und das Stadion in Frankfurt. Überall werden Eintrittskarten hervorgeholt, mit wachem Blick überprüft und sorgsam wieder in Taschen verstaut. Ich muss an all die erwartungsvollen Menschen denken, die gedruckte Verlagsvorschau für 2018 mit meinem neuen Roman darin und überlege, ob ich nicht besser zum Fußball fahren sollte.
Die beiden Jungs öffnen kurz nach Berlin ihr zweites Bier und werden nach Wagen 16 gefragt. Freundlich und beschwingt geben sie Auskunft darüber, dass sie nicht zum Zugpersonal gehören. Die ergraute Dame neben ihnen beginnt amüsiert das Gespräch. Mit zwei Meter Abstand betrachte ich die Szene. Von wegen, es wird immer schlimmer mit der Jugend. Die beiden sehen geradezu liebenswürdig aus. Sollen sie halt am frühen Morgen schon trinken, das machen die Eintracht-Fans mit weit weniger Charme doch auch.
Als sie dann aber damit beginnen, ihre mitgebrachten Burger zu verzehren, viel Zwiebeln und Speck, dreht sich mein angeschlagener Magen um und ich versuche, mich aus dem Moment zu stehlen, indem ich mir Kopfhörer ins Ohr stecke. Einfach mal Nein sagen, gern auch zum Moment, zum Leben an sich, natürlich ohne destruktiv zu werden.
Je weiter wir nach Süden fahren, desto mehr Schnee liegt wie eine dicke Schicht Puderzucker auf der Landschaft. Der Zug fährt ruckartig über die Weichen, wir erreichen Bitterfeld und kommen unerwartet unsanft zum Stehen. Draußen rieselt der Schnee.
„Meine sehr verehrten Damen und Herren, aufgrund der aktuellen Wetterlage verspätet sich unsere Ankunft um etwa 30 Minuten. Dieser Halt in Bitterfeld erfolgt außerplanmäßig, bitte lassen Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit die Türen geschlossen. Wir bitten um Ihr Verständnis.“
Es ist 8.30 Uhr und ich nehme es gelassen, denn die Verspätung verschafft mir Zeit. Ich mute meinem Magen einen Kaffee aus dem Bordbistro zu und verliere meinen Sitzplatz. Die ältere Dame mit den grauen Haaren muss sich etwas die Füße vertreten, deshalb stehen wir jetzt nebeneinander.
„Wollen Sie auch zur Messe?“
„Ja.“
„Privat oder …“
„Ich bin Autorin, mein Verlag hat einen Stand in Halle 5.“
Die meisten Menschen sind übertrieben interessiert, wenn sie von meiner schriftstellerischen Tätigkeit erfahren. Die Dame auch.
„Was schreiben Sie denn?“
„Zeitgenössische Prosa.“
Mir fällt auf, dass ich selbst nicht genau weiß, was ich eigentlich mache.
„Wie spannend! Wie viele Bücher haben Sie denn geschrieben?“
„Zwei. Das erste wurde 2015 veröffentlicht, das zweite ist gerade fertig und soll im Laufe des Jahres erscheinen.“
„Worum geht es denn in Ihren Büchern?“
Ich hasse es, über abgeschlossene Romane zu sprechen. Sobald der letzte Satz geschrieben und der Text an den Verlag geschickt ist, will ich damit am liebsten nichts mehr zu tun haben. Bevor ich mich zu einer Antwort zwingen muss, setzt der Zugbegleiter glücklicherweise zu einer Durchsage an:
„Meine sehr verehrten Damen und Herren, leider habe ich keine guten Nachrichten: Im Großraum Leipzig ist der gesamte Zugverkehr aufgrund des Schneefalls zum Erliegen gekommen. Unsere Abfahrt verzögert sich deshalb auf unbestimmte Zeit. Wenn Sie möchten, können Sie sich gern auf dem Bahnsteig die Füße vertreten und frische Luft schnappen.“
Ich bin erleichtert, denn so kann ich wenigstens eine Zigarette rauchen. Den beiden Jungs auf dem Sitz gegenüber scheint es ähnlich zu gehen. Unsere Blicke treffen sich, aber ein Gespräch auf dem Bahnsteig fängt keiner an.
Zurück im Bistro und bei meiner Reisetasche nehme ich meinen Mut zusammen und frage die beiden Anzugträger, ob noch eine Platz neben ihnen frei ist. Die ältere Dame sitzt am selben Tisch und stellt sich als Lissy vor.
Lissy ist Qigong-Lehrerin und zeigt uns ein paar Lockerungsübungen. Max ist Weichenmechaniker bei der BVG, Patrick Schlosser. Wenn jetzt noch einer von der Raiffeisenbank da wäre, wir würden hier rauskommen. Aber bevor ich auf dumme Gedanken komme, erklärt mir Max den Unterschied zwischen S-Bahn-Weichen und ICE-Weichen. Zusammenfassend etwas in der Art von „die bei der Bahn müssen mehr aushalten, die sind ganz anders gebaut“.
Sein Bieratem weckt in mir die Lust, selbst eins zu trinken. Ich schlage vor, dass ich zum Einstand eine Runde hole. Selbst Lissy ist von der Idee begeistert, dabei ist es erst 11 Uhr.
Ich bestelle vier Bier und bezahle großspurig mit einem frischen Fünfziger aus dem Automaten.
Das Bier macht Lust auf eine weitere Zigarette. Auf dem Gleis suchen wir das Gespräch mit Christian, dem bayrischen Zugführer. Die Zigaretten brennen in der feuchten Eisluft nur schwer ab. Dann muss Christian wieder rein, eine Durchsage steht an:
„Meine sehr verehrten Damen und Herren, am Gleis nebenan steht für Sie ein ICE bereit, der demnächst die Rückfahrt nach Berlin antreten wird. Wenn Sie die Reise also hier abbrechen möchten, können Sie den Zug gegenüber nutzen. Ich weise noch einmal darauf hin, dass der Zeitpunkt unserer Weiterfahrt ungewiss ist. Wir verabschieden uns auch von unserem Lokführer, der mit dem ICE gegenüber nach Berlin zurückfahren wird. Ich informiere Sie, sobald weitere Informationen oder ein neuer Lokführer vorliegen.“
Ein Bahn-Mitarbeiter verteilt persönlich die Verspätungsbestätigungen. Kaffee und Softdrinks sind ab sofort gratis, der Kakao ist aus.
Lissy bietet mir eins der trockenen Bio-Brötchen an, das für das Frühstück mit ihren Freundinnen gedacht war.
„Das machen wir jedes Jahr so, jeder bringt was anderes mit. Jetzt sitzen die in Leipzig mit Butter und Marmelade und die Brötchen stecken in Bitterfeld fest.“
Sie nimmt es mit einem wunderschönen Humor. Die Uhr zeigt 12.30 Uhr und so langsam ist auch das egal. Ein halbes Brötchen nehme ich ihr ab, mehr bekomme ich nicht runter.
Weitere Anrufe erreichen mich.
„Bist du immer noch in Bitterfeld?“
„Ja. Die Bahn empfiehlt uns die Rückreise, sogar unser Lokführer ist weg. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf.“
„So ein Mist.“
Nö, eigentlich nicht, denke ich, während ich auf mein zweites Bier schaue. Die Eintracht-Fans haben alle aufgegeben und eigentlich ist es ganz lustig, so gefangen im Schneesturm mit Fremden in einem führerlosen Zug.
Lissy organisiert eine spontane Lesung mit einer Krimiautorin, sogar zwei Reporterinnen kommen mit Kamera vorbei und filmen. Auch sie sind eigentlich auf dem Weg zur Messe.
Patrick zeigt mir gerade Bilder von seinem Schäferhund-Dackel-Mischling, wirklich niedlich, und ich spreche es laut aus:
„Hoffentlich ist der Schäferhund nicht der Vater.“
„Stefanie, möchtest du nicht auch etwas lesen?“
Die liebenswürdige Lissy scheint meine Geschichten unbedingt hören zu wollen. Aber nein, lesen möchte ich gerade wirklich nicht.
Neben uns fährt der ICE mit den Eintracht-Fans Richtung Halle ab. Das Bordrestaurant leert sich, die Reste rücken näher zusammen. Lissy schlägt vor, Mord im Orient-Express nachzustellen. Keiner möchte der Mörder sein, deshalb spielen wir jetzt Stadt-Land-Fluss.
Wir fragen den guten Frühstücker, ob er mitspielen will, schließlich gehört er zum harten Kern. Er heißt Mike mit ai und bestellt sich solidarisch ein Bier.
Es entbrennt ein Streit darüber, ob mit Land eigentlich Staat gemeint ist oder eine gewisse Souveränität allein ausreicht (der konkrete Fall ist Hongkong). Ich bin einsichtig und verzichte auf die 10 Punkte, die mir zum Sieg längst nicht mehr fehlen. Erstaunlich, wie viel Topographie-Wissen der Mittelstufe aus meinem betrunkenen Hirn fließt. Als Beruf gebe ich sicherheitshalber Handwerker (möglicherweise zu unspezifisch) und Handyverkäufer an, beim Fluss entscheide ich mich für Havel und muss mir einige Spandau-Witze gefallen lassen.
Sie hatte Recht, meine Erdkundelehrerin, die mich fast jede Woche beim Abschreiben erwischt hat. Man lernt fürs Leben, genau genommen für Bitterfeld. Für den unwahrscheinlichen Fall eines ungeplanten Zwischenhalts inmitten des Nirgendwo, hinter der Lutherstadt Wittenberg und vor Leipzig.
Und dieses Bitterfeld ist ein bisschen wie der Raum zwischen Wahnsinn und Wirklichkeit, in dem Geschichten zur Welt gebracht werden. Eine Leerstelle der Realität, wie ein blankes Blatt Papier, das mit der schieren Bedeutung des belanglosen Moments beschrieben werden will.
Mir fehlt dieser Zwischenraum, seit ich im Dezember meinen Roman fertiggestellt habe. Das fällt hier in der Einöde besonders auf und manifestiert sich unangenehm als schmerzhaftes Ziehen in der Brust.
Weil das Bier der Bahn langsam ins Geld geht, googeln wir, wie weit der nächste Supermarkt entfernt ist. Patrick hält seinen besten Freund davon ab, den Bahnsteig zu verlassen. Unterm Strich ist es das einfach nicht wert.
Ich lasse eine Runde Bier springen und werde von der netten Bordbistromitarbeiterin zum dritten Mal darauf hingewiesen, dass ich für das Bier trotz allem noch zahlen muss.
Jemand fängt an zu singen, bald steigen alle mit ein:
„Ich sitz schon seit ’ner Stunde ziemlich dumm,
allein an meinem Kneipentisch herum.
Ich trinke schnell obwohl ich’s nicht vertrag,
weil ich weder volle noch leere Gläser mag.“
Christian schaut mal wieder nach dem Rechten, energische Schritte auf dem Gang kündigen ihn an. Max hält ihn auf und bittet ihn um etwas Musik, das würde die Stimmung lockerer machen.
„Atemlos wäre toll!“
Patricks Augen leuchten auf. Christian verzieht das Gesicht, bleibt aber kundenfreundlich:
„Das ist keine schlechte Idee, wenn ich das nächste Mal einen überfüllten Zug leeren möchte, lasse ich einfach Helene Fischer über den Lautsprecher laufen.“
Wir gehen eine rauchen und sehen am Gleis gegenüber den von Merkel signierten ICE, der als erster die Schnellstrecke zwischen Berlin und Nürnberg befahren durfte.
„Schaut mal, da drüben steht der schnellste ICE Deutschlands, und wir sind im langsamsten. Was für ein schöner Zufall!“
Dann folgt wieder eine Durchsage, die wir so oder so ähnlich schon ein Dutzend Mal heute gehört haben:
„Meine sehr verehrten Damen und Herren, leider habe ich keine Neuigkeiten für Sie. Am Gleis gegenüber steht wieder mal ein Zug für Sie bereit, der Sie zurück nach Berlin bringen kann. Die gute Nachricht: Wir haben wieder einen Lokführer. Sobald ich mehr weiß, werde ich Sie umgehend unterrichten.“
Max wird emotional uns setzt zu einer pathetischen Rede an.
„Egal wie das heute gelaufen ist, ich bin froh, dass wir uns kennengelernt haben.“
Ich bitte ihn, die Tränen zurückzuhalten, ernte einen Lacher, dabei bin ich angesichts seiner Worte selbst in sentimentaler Stimmung. Es wird vorbei sein, gleich oder in zwei Stunden, aber es wird ein Ende finden, wie jeder ICE in dieser Welt, selbst die Ringbahn geht schließlich irgendwann schlafen.
Der festgefrorene Zug setzt sich mit dem neuen Lokführer in Bewegung. Es ist so schön, dass wir klatschen und grölen. Ich möchte weinen, aber ich kann nicht. Der tapfere Christian eilt mit schnellem Schritt durch das Bordrestaurant und holt sich seinen verdienten Applaus ab.
An der Messe verabschieden wir uns von Lissy. Warum ich selbst nicht direkt dort aussteige, weiß ich nicht so recht. Vielleicht liegt es an den netten Jungs, die ich langsam ins Herz schließe.
Mit fünf Stunden Verspätung erreichen wir Leipzig. Patrick und Max tragen den leeren Bierkasten und werden auf dem Bahnsteig trotzdem mehrere Male für Zugpersonal gehalten.
Ich bin ziemlich angetrunken, deshalb ist es vielleicht sogar meine Idee, mit meinen neuen Freunden noch in die Bierbar am Gleis 8 zu gehen. Wer weiß das schon. Da war ich schon vor zwei Jahren, nach drei Tagen Buchmesse, als „Letzte Runde“ noch ein Frischling war, der mir Auftrieb gab und Lebensfreude.
„Da kann man rauchen.“
Und selbst Maik ist dafür, obwohl er aufgehört hat zu rauchen.
Eigentlich ist mir egal wohin, nur nicht zur Messe, nur nicht dahin. Bitte nicht.
Sonntag 18.03.18
„Die Brücke habe ich gestern Nacht vom Taxi aus gesehen, wahrscheinlich aus Holz, sieht asiatisch aus.“
„Ach die!“
Die Menschen in Leipzig werden unwahrscheinlich ungern auf der Straße angesprochen, aber in diesem Fall geht es nicht anders.
„Genau genommen sind es sogar zwei Brücken, ein gutes Stück da entlang.“
Geschlagene 45 Minuten bin ich durch den Park geirrt und in die falsche Richtung gelaufen. Wenigstens ein Foto möchte ich noch machen, ein Bild mitnehmen von dem Wochenende, das nicht ganz nach Plan verlaufen ist.
Ich bin aus der Puste, mein Gastauftritt auf der Messe gestern steckt mir noch in den Knochen. Gut angeheitert, begleitet von meinen neuen Freunden, Patrick dem Schlosser und Max dem Weichenmechaniker, der meine Yogamatte bis zum Eingang tragen musste. Wir haben noch ein Schultheiss zusammen getrunken am Messestand, ein kurzes Gespräch mit Frank Rudkoffsky, der mir Bestsellerpotential bescheinigte, war auch noch drin, dann wurde auch schon abgebaut. An die Lesung von Kathrin Wildenberger am Abend im Beyerhaus kann ich mich kaum noch erinnern, aber an das Schnitzel, das neben dem halben Brötchen von Lissy meine einzige feste Nahrung an diesem Tag gewesen ist, und an die Brücke, die ich auf dem Weg zur duotincta-WG vom Taxi aus gesehen habe.
Ich beherzige den Rat des Ortskundigen und laufe den ganzen Weg zurück und noch ein Stück weiter. Als ich endlich am Ziel ankomme, hat sich mein Handy-Akku längst verabschiedet, ein Foto ist nicht mehr drin.
Die Märzsonne spiegelt sich auf einem zugefrorenen Teich, schneebedeckte Bäume säumen das Ufer. Zwei Schwäne teilen sich das letzte Wasserloch und ich frage mich, ob Wasservögel wohl kalte Füße auf dem Eis bekommen.
Ich kehre unverrichteter Dinge zurück in die Wohnung. Die anderen sind längst auf der Messe, präsentieren ihre neuen Romane und sprechen mit der Presse. Ich leere den Müll, wische noch einmal den Schneematsch aus dem Flur und werfe einen letzten Blick in den gottverlassenen Raum.
Sauge die Erinnerungen an ein durchwachsenes Wochenende in Leipzig auf, denn ich habe Angst, dass es das letzte Mal sein könnte. Dass mir die Ideen ausgehen oder die Kraft nicht mehr ausreicht. Manchmal ist es Zeit zu gehen, diese Erkenntnis hat meinen ersten Roman getragen, jetzt trägt sie mich aus der Wohnung in der Moschelesstraße hinaus.
Am Bahnhof hat sich das Verkehrschaos vom Vortag immer noch nicht wieder beruhigt. Die Polizei räumt gerade einen überfüllten Zug nach Hamburg wieder aus. Auf dem Bahnsteig macht sich Unmut laut, da hilft auch der bereitgestellte Aufenthaltszug am Gleis nebenan nicht weiter.
Ich stelle mir Christian, den tapferen Zugbegleiter vor, wie er aus schierer Verzweiflung Siri bittet, „Atemlos durch die Nacht“ von Helene Fischer abzuspielen. In meiner Phantasie presst er das Handy fest an den Lautsprecher und beginnt mit zitternder Stimme und einstudierter Betonung seine Ansage:
„Guten Tag, meine sehr verehrten Damen und Herren, herzlich Willkommen im Helene Fischer-Express nach Hamburg Altona über Berlin-Spandau mit außerplanmäßigem Zwischenhalt in Bitterfeld. Bitte nutzen Sie die Möglichkeiten, die Ihnen bleiben und verlassen Sie diesen Zug, so lange Sie noch können. Die Reisenden, die trotz aller Widrigkeiten an Bord bleiben möchten, informiere ich am Zielbahnhof über ihre möglichen Anschlüsse. Vielen Dank, dass Sie sich für die Reise mit der Bahn entschieden haben. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Fahrt.“
Ein Lächeln huscht über meine eingefrorenen Wangen. Es ist kalt hier, bitterkalt. Aber in diesem Moment weiß ich, was mir zum Glück fehlt: Eine neue Geschichte, in der ich mich verlieren kann. Es stimmt eben doch, der Weg ist das Ziel.
Und sehen wir uns nicht in dieser Welt, dann sehen wir uns in Bitterfeld.
F I N E